Masterthesis Lisa Häberle, 2020
Seit 2008 leben erstmals mehr Menschen in der Stadt und bis 2070 werden schon knapp 70 Prozent der Menschheit ihren Alltag in urbanen Agglomerationsräumen verbringen. Doch innerstädtischer Wohnraum fehlt, besonders im Bereich des geförderten Wohnungsbaues. Die ‚Boomjahre‘ nach dem zweiten Weltkrieg zwischen 1949 und 1975 führten im Wohlfahrtsstaat Deutschland durch eine weitreichende Wohnungspolitik im Massenmodell zu intensiver Objektförderung und dem Bau von 4,9 Millionen öffentlich geförderter Wohnungen. Obwohl die Großwohnbauten in der Öffentlichkeit zumeist negativ konnotiert werden, charakterisieren sich einige Bauten dieser Epoche jedoch nicht nur durch eine hohe Zahl an gefördertem Wohnraum sondern auch durch eine bis heute hohe Bewohnerzufriedenheit. Der Entwurf basiert auf der Untersuchung der Typologie der Großwohnbauten der Nachkriegsjahre als Grundlage einer reproduzierbaren Architekturtypologie für das 21. Jahrhundert. Dabei wurden charakteristische strukturelle und konzeptionelle Merkmale wie der ‚verkehrsgerechte‘ Sockel und die Integration weitläufiger Konsumeinrichtungen an den aktuellen politischen, gesellschaftlichen und architektonischen Habitus angepasst. Im Sinne eines nachhaltigen Städtebaus sowie zur Schaffung neuer, stadteigener Bauflächen bildet die Typologie Großwohnbau eine Synthese mit bestehender Infrastruktur und stellt dabei zeitgleich das Grundgerüst zur Umnutzung in einer autofreien Zukunft. Der Bedeutungszuwachs von Wissenschaft und Technologie in den vergangenen Jahren und das Wissen über die Zugangsmöglichkeit zu Informationskanälen sowie die Fähigkeit, die Fülle an Informationen zu filtern, bilden heute eine eigenständige Dimension sozialer Ungleichheit. Die Integration kollektiv und durch das Quartier eigenverantwortlich bespielbarer Kulturflächen soll im geförderten Wohnungsbau die Grundlage sozialer Gerechtigkeit und gleicher Zugangschancen zu städtischen Gütern bilden und wird gleichsam zum sichtbareren, verbindenden Element im Stadtraum.
Der in der theoretischen Ausarbeitung aufgestellte Thesenkatalog bildet das theoretische Grundgerüst für das architektonische Konzept. Die Typologie Großwohnbau wurde anschließend in einem ersten Schritt beispielhaft am mittleren Ring in München betrachtet. Ausgehend von fünf unterschiedlichen Orten entlang des Rings wurden verschiedene städtebaulichen Szenarien entwickelt. Das Szenario der Landshuter Allee zwischen Nymphenburger- und Leonrodstraße wurde anschließend als exemplarisches Entwurfsgebiet gewählt.
Der Mittlere Ring verläuft unterirdisch entlang der Landshuter Allee zwischen Nymphenburger Straße und Leonrodstraße. Oberirdisch wird die zwei-, beziehungsweise dreispurige Fahrbahn durch mittiges Abstandsgrün begrenzt. Das Stadtviertel Neuhausen, welches sich nach Ost und West ausdehnt, wird durch diese Infrastruktur räumlich durchschnitten und voneinander getrennt. Der Entwurf sieht eine Verlegung der Fahrbah- nen in Straßenmitte vor, wodurch das vormals nicht nutzbare Abstandsgrün zu nutzbaren Freiflächen entlang der bestehenden Gebäudekanten auf West- und Ostseite der Landshuter Allee transformiert wird. Die Barriere der Infrastruktur wird somit von zwei auf eine trennende Fahrbahn reduziert. Der Baukörper positioniert sich aufgeständert auf Stützen über dieser mittigen Fahrbahn. Durch die hybride Struktur aus Infrastruktur und Gebäude wird so neues Bauland generiert und die Verbindung zwischen Ost- und Westneuhausen reaktiviert. Die visuelle Verbindung wird auf Straßenniveau durch eine offene Stützstruktur geschaffen. Das Bauvolumen wird in Anlehnung an die Kleinteiligkeit der umgebenden Blockrandbebauung parzelliert und in der Höhe gestaffelt. Die Erschließung des Gebäudes erfolgt beidseitig über freistehende Kerne entlang der Landshuter Allee. Die entstehenden Freiflächen östlich und westlich der Fahrbahn schaffen Raum für Fuß- und Radverkehr. Das erste Obergeschoss ist als Gemeinschaftsfläche für das Stadtviertel Neuhausen anzusehen.
Die Nutzung fokussiert hierbei die Bereiche des Wissens und der Kultur. Dabei soll die Architektur gemeinschaftliche Projekte und Initiativen der ‚Neuhauser‘ fördern, um so Raum für Individualität auf der einen und Solidarität und Verständnis auf der anderen Seite zu schaffen. Neben den Projekträumen, welche zur kostenfreien Nutzung zur Verfügung stehen, wurde eine Werkstatt und ein Veranstaltungsraum integriert. Nutzer und Nutzung der Projekträume sollen gemeinschaftlich beschlossen werden und neu Hinzukommende willkommen sein. Die Architektur des ersten Obergeschosses nimmt sich bewusst zurück und schafft lediglich das bauliche Grundgerüst und die nötige Infrastruktur an dienenden Räumen, um flexible Nutzung und Aneignung zu ermöglichen. Variable Raumtrennung und -schaltung wird zudem durch Faltwände ermöglicht. Die verglasten, vollflächig schieb, beziehungsweise klappbaren Fassaden schaffen einen fließenden Übergang zwischen Innen- und Außenraum in den umgebenden städtischen Kontext, um so die unterschiedlichen Nutzungen auch vom Straßenniveau sichtbar zu machen. Die Tragstruktur wird durch einen Stahlbeton-Skelettbau im Raster von 6,00 auf 10,00 Meter gebildet. Erweitert wird diese innere Tragstruktur im Außenbereich durch eine vorgehängte Stahlskelettkonstruktion. Die Wohnungen werden über Laubengänge erschlossen, welche im Wechsel nach Ost- und West orientiert Bezüge zur Umgebungsbebauung schaffen. Die zum Stadtraum orientierten Wohnungstüren schaffen Urbanität und Blickbezüge zwischen Neubau und Bestand. Die Laubengänge, ergänzt durch die gegenüberliegenden Balkone, welche durch Pflanzentröge und Markisen geschützt, private Außenbereiche bilden, können so ungezwungener, freiwilliger Treffpunkt unter den Bewohnern fördern.
Die Grundbreite des Laubengangs von 1,50 Meter wird durch zusätzliche Aufweitungen zu nutzbarer Außenfläche. Diese Aufweitungen (bei kleinen Wohnungen zwei Einheiten, bei großen einer Einheit zugeschrieben) sollen Möglichkeit zu freier Bespielung und nachbarschaftlichem Kontakt bieten. Die Schwelle zwischen der halböffentlichen Zone des Laubengangs und den privaten Wohnbereichen wird im Außenraum durch Vor- und Rücksprünge der Fassade und die somit entstehenden Vorbereiche zu den Wohnungseingängen geschaffen. Im Inneren staffeln sich die Wohnungen vom Laubengang her in ihrer Privatheit. Dabei fungiert der Vorbereich in den Wohnungen als zusätzliche innere Schwelle, ähnlich einer Veranda. Die kommunikativen Funktionen des Wohnens, der Koch- und Essbereich, werden diesem räumlich angegliedert, wobei die privatesten Funktionen, die Individualräume, zu den privaten Außenräumen orientiert sind. Dienende Räume wie Bad, Abstellkammer und WC liegen uneinsichtig im Inneren der Wohnung. Die Individualräume bieten somit, räumlich am stärksten von der halböffentlichen Erschließung getrennt maximale Privatheit. Durch ihr Lage, im Wechsel dem zentralen Raum der Wohnungen zu- und abgewandt, wird die Möglichkeit zum ‚Durchwohnen‘ geschaffen.Innerhalb des Gesamtkomplexes variiert das ‚Wohnraster‘ in der Grundstruktur (6 x 10 Meter) zwischen 3, 4,5, 6, 9 und 15 Meter, um so vielfältige Wohnmodelle zu ermöglichen. Das übergeordnete Wohnraster kann zudem durch unterschiedliche Zuordnung der Individualräume an unterschiedliche Wohngrößen angepasst werden. Diese hohe Varianz schafft eine Vielzahl unterschiedlicher Grundrisstypen (bei gleichbleiben- der Grundstruktur), um so pluralisierten Lebensstilen zu entsprechen. Die zwischen 27 und 133 Quadratmeter messenden Wohnflächen für bis zu 8 Bewohner unterschreiten dabei konsequent die maximal zulässigen Flächen der bayerischen Wohnraumförderungsbestimmungen von 2012 um bis zu 35%. Innerhalb des Gebäudekomplexes verfügt jeder Gebäudeteil über ein eigenes Wohnraster. So wird Homogenität in direkter Nachbarschaft bei gleichzeitiger Heterogenität des gesamten Gebäudes gefördert.Die abschließende Ebene des Daches bildet dabei die durchgängige verbindende Ebene der einzelnen Gebäudeteile. Durch zusätzliche Treppen wird zwischen den unterschiedlichen Gebäudehöhen vermittelt. Als Erweiterung der privaten Sphären sowie zur Regeneration und Bewegung werden Sommerküche, Grillplatz, Gemüse- und Obstgarten, Gewächshaus, Fußball- und Basketballfelder, Kinderspielplatz und Laufstrecke integriert.